14.-16.12.2009
Master of Fine Arts ZHdK, 10-18 Uhr

Die Live-Connection
Eva Meyer

Eva Meyers Workshop umfasst drei Teile, die „Chronik der Anna Magdalena Bach“ von Jean-Marie Straub und Danièle Huillet, das Autobiografische Singespiel von Charlotte Salomon und die Textinszenierung von „Frei und Indirekt“ von Eva Meyer selber.

Film:  Straub/Huillet, Chronik der Anna Magdalena Bach, BRD/Italien 1967, basiert auf dem Nekrolog von Philipp-Emmanuel Bach (1750) und Briefen von Johann Sebastian Bach in der Stimme Anna Magdalena Bachs. Das heißt, so Deleuze, „sie spricht so, wie Bach schrieb und sprach, und gelangt dadurch zu einer Art freier indirekter Rede“.

Straub: „Man kann annehmen, dass Philipp-Emanuel teilweise geschrieben hat, wie Bach erzählt hat. Daraus wird im Film, dass Anna Magdalena, der die Texte in den Mund gelegt werden, spricht, wie Bach geschrieben hat, was die Briefe betrifft, und wie er gesprochen hat, was den Nekrolog betrifft.“
Was Bach hinterlässt sind „drei Realitäten“: „die Musik, die Handschriften oder Originaltexte und die Briefe samt dem Nekrolog, also wie Bach schrieb und wie er sprach. Mit diesen drei Realitäten könnte man noch keinen Film machen, damit könnte man machen, was man einen Dokumentarfilm nennt, aber der Reiz meiner Chronik besteht eben darin, dass man den Menschen da hineinbringt. Was für einen Menschen?“ Leute in Kostümen, einen Mann mit Perücke und im Kostüm eines Kantors,  „aber wir werden dem Zuschauer nicht unbedingt sagen: das ist Bach.“  Das ist auch der Musiker Gustav Leonhardt und „der Film, das Spiel besteht darin, dass man ihn mit diesen drei Realitäten, Schriften, Texten und Musik, zusammenbringt. Nur wenn die Zündung zwischen diesen vier Elementen funktioniert, wird etwas daraus werden“. Obwohl man „fast ausschließlich dokumentarische Realität“ hat: „die wirkliche Musik, die wirklichen Texte und Schriften, die wirklichen Musiker – und nur ein Siebzehntel Fiktion“ , wird „das Ganze fast nur ein ‚Roman’ werden“, dessen Held allerdings nicht nur eine Person ist, sondern die merkwürdig kollektive freie indirekte Rede.

Autobiographisches Singespiel: Charlotte Salomons „Leben? Oder Theater?“ basiert auf den mehr als dreizehnhundert Gouachen (32,5X25 cm) von Charlotte Salomon, die in ihrer Gesamtheit eine Autobiographie oder ein Theaterstück ergeben, Salomon nennt es „autobiographisches Singespiel“, in zwei Serien, I/1-211, II/1-556, und einige hundert unnummerierte Seiten. Sie wurden von Charlotte Salomon zu Beginn des Zweiten Weltkriegs in Südfrankreich gemalt und geschrieben:

„Der Mensch sitzt am Meer. Er malt. Eine Melodie kommt ihm plötzlich in den Sinn. Indem er sie zu summen beginnt, bemerkt er, dass die Melodie genau auf das, was er zu Papier bringen will, passt. Ein Text formt sich bei ihm, und nun beginnt er die Melodie mit dem von ihm gebildeten Text zu unzähligen Malen mit lauter Stimme so lange zu singen, bis das Blatt fertig scheint. Oftmals werden mehrere Texte gebildet, und es entsteht ein Doppelgesang, oder es passiert sogar, dass alle darzustellenden Personen einen verschiedenen Text zu singen haben, wodurch ein Chorgesang entsteht. Die Verschiedenheit der Blätter sollte weniger am Verfasser liegen als an der Verschiedenheit der Charaktere der zu gebildet werdenden Personen. Der Verfasser bemüht sich, was am deutlichsten vielleicht im Hauptteil zu spüren ist, vollständig aus sich selbst herauszugehen und die Personen mit eigener Stimme singen oder sprechen zu lassen“.

Was dabei entsteht ist eine besondere Vorstellung mit unendlichem Inhalt, die zwar Gedächtnis aber kein Selbstbewusstsein hat. Die Erinnerung ist zwar vorhanden und umfasst die ganze Besonderheit eines Akts, einer Szene. Aufgrund eines inkompatiblen Spannungsverhältnisses von Sprache und Bild aber fehlt das „Für sich“ des Bewusstseins, die Erkenntnis. Man könnte sagen, dass dem Gedächtnis das Erinnern fehlt. Deshalb kann sich zwischen die Vorstellung und ihren Protagonisten etwas schieben, das weiter reicht als mit „Ich habe eine Vorstellung“ ausgedrückt wäre, hin zu  einem Vermögen, das sich in keines seiner Bilder oder Aussagen einschließen lässt, weil es nicht den individuellen, sondern den kollektiven Charakter eines Erzählens markiert, mit dem nicht ein „Wir“, sondern die Welt in den Text gerät.

Textinszenierung: Eva Meyer, Frei und indirekt (Stroemfeld, 2009): Die sogenannte „erlebte Rede“  oder auch „Style indirect libre“  oder auch „freie indirekte Rede“  wird von Deleuze am Beispiel der filmischen Wahrnehmung beschrieben: Dabei handele es sich „nicht bloß um eine Vermischung zweier getrennter Äußerungssubjekte, von denen das eine berichtet, während über das andere berichtet wird. Es handelt sich vielmehr um eine Anordnung von Äußerungen, die gleichzeitig zwei nicht voneinander zu trennende Subjektivierungsakte ausführt: der eine konstituiert eine Person in der ersten Person, während der andere ihrer Entstehung beiwohnt und sie in Szene setzt. Was hier vorliegt, ist nicht etwa eine Mischung oder ein Mittleres zwischen den beiden Subjekten, von denen jedes seinem System angehörte, sondern eine Differenzierung von zwei korrelativen Subjekten in einem seinerseits heterogenen System.“  Es ist klar, dass in dieser Figur kein „ich“ , sei es noch so gebrochen oder relativiert, spricht, sondern eine Pluralität von Äusserungen, die die Bedingungen der Repräsentation und den mimetischen bzw. fiktionalen Charakter des Narrativen unterlaufen. In dem Maße, wie sich die Scheidung von Sprache und Metasprache auflöst, verliert der Erzählakt sein Fortschreiten vom Ersten zum Zweiten, von den Dingen zu den Wörtern, vom Sehen zum Sagen. Es gibt nur mehr ein kollektives Gefüge, das die Zuweisung von Individualität und ihre wechselnde Verteilung bestimmt und alle Stimmen erklärt, die in der einen Stimme vorhanden sind, die im Übergang zwischen „Ich“ und „Er/Sie“ das Wort ergreift und in dieser Differenz ihre Geschichte verwirklicht.


Eva Meyer ist Philosophin, Schriftstellerin. Veröffentlichte zahlreiche Bücher, darunter „Zählen und Erzählen. Für eine Semiotik des Weiblichen“, 1984, „Die Autobiografie der Schrift“, 1986, „Der Unterschied der eine Umgebung schafft. Kybernetik-Psychoanalyse-Feminismus.“ 1990, „Tischgesellschaft“, 1995, „Faltsache“, 1996 „Glückliche Hochzeiten“, 1999, „Von jetzt an werde ich mehrere sein“, 2003, „What does the Veil Know?“ (Ed.), 2009, „Frei und indirekt", 2010